Trekking-Tour auf den Chacaltaya

La Paz / Bolivien bolivia
(Bericht vom 19.06.2014)

IMGP0474Bolivien ist das ideale Land für Trekking und Bergbesteigungen. Die Gebirgszüge Cordillera Real und Cordillera Condoriri sind von La Paz in wenigen Autostunden gut zu erreichen und bieten unzählige ein- und mehrtägige Trekking- und Hochgebirgstouren unter schneebedeckten Fünf- und Sechstausendern.

Uns reizt die sportliche Herausforderung und so beschließen wir, uns auf ein Abenteuer der ganz besonderen Art einzulassen. Um für dieses Abenteuer gut vorbereitet und akklimatisiert zu sein, unternehmen wir zunächst eine Trekking-Tour auf den Chacaltaya (5.450 m).

Der Chacaltaya liegt in der Cordillera Real zwischen den Gipfeln des Huayna Potosi und des Illimani.

In der berühmten, steil ansteigenden Einkaufsstraße Calle Sagarnaga in La Paz reiht sich ein Touranbieter an den anderen. Nachdem wir einige Agenturen miteinander verglichen haben, buchen wir bei Victor Tours unseren 1-Tages-Trip (75 Bolivianos/ p.P.).

Um 7:40 Uhr werden wir vom Plaza Espagna, unweit unserer privaten Unterkunft, abgeholt. Kreuz und quer geht es 1 Stunde durch La Paz bis alle Plätze in dem Minibus gefüllt sind. Anschließend geht es in einer wahrlich abenteuerlichen Fahrt mit dem Micro-Bus aus dem Talkessel von La Paz über eine schmale, in die steilen Hänge getriebene, Buckelpiste bis auf 5.200 m hoch.

Am Endpunkt der Straße befindet sich eine Hütte, die vom Club Andino Boliviano betrieben wird. Doch außer heißem Coca-Tee bekommt man hier nicht mehr viel. Die besten Zeiten hat das langsam dem Verfall preisgegebene Refugium hinter sich. Bis 2010 auch die letzten Reste des Chacaltaya weggetaut waren galt der gleichnamige Gletscher mit einer Höhe von über 5.000 m als das höchstgelegene Skigebiet der Welt. Gäste aus aller Welt reisten an. Heute zeugen nur noch verblichene Fotografien, verstaubte Ski und die Überreste eines Schlepplifts von dieser unwiederbringlich verlorenen Zeit. Die globale Klimaerwärmung hat auch hier „ganze Arbeit“ geleistet. Nur noch wenige Schneefelder und die riesigen Ausmaße des abgeschliffenen, blanken Fels lassen erahnen, welche weiße Pracht sich hier einst ausgebreitet haben muss …

Von der Hütte aus führt ein steiler Weg über einen ausgesetzten Grat auf die beiden Gipfel des Chacaltaya (5.395 m und 5.450 m). Teilweise ist der Pfad etwas beschwerlich, weil die Gipfel mehr einem Schuttberg aus Granit gleichen, doch insgesamt lässt es sich ganz gut auf dem losen Untergrund trekken. Nach 1 Stunde sind wir auf dem höchsten Punkt und genießen bei sonnigem Wetter die Sicht auf den Titicaca-See, das 30 km entfernte La Paz, El Alto und natürlich den Huayna Potosí. Majestätisch erhebt sich der vergletscherte Gipfel. Bis auf 5.000 m reicht die Gletscherzunge hinab. Darunter das dunkle Granit-Massiv.

Während uns der Wind eisig um die Nase weht genießen wir lange den Rundum-Blick auf die Umgebung. Rot, gelb-braun, bizarr geformtes Gestein hebt sich deutlich aus den leicht grün schimmernden Hochebenen ab. Weit verstreut liegen die kleinen Dörfer aus Adobeziegeln. Überall grasen Lama- und Schafherden. Greifvögel kreisen über unseren Köpfen und nutzen die heftigen Winde über 5.000 m scheinbar spielerisch. Die mannigfachen Formationen und Farbgebungen der kargen Umgebungslandschaft begeistern uns. In den engen Tälern glitzern im Mittagslicht kleine Lagunen. Je nach mineralischer Zusammensetzung des Gesteins schimmern sie rot, türkis, kobaltblau. Schwarze steile Felswände ragen überall auf und scheinen es unmöglich zu machen in diese raue Gebirgswelt noch weiter vorzudringen. Und doch ist es möglich. Einen Tag später werden wir es selber wagen ….

 

Altiplano

La Paz / Bolivien bolivia
444. Reisetag
14.438 km / 86.431 hm
(Bericht vom 18.06.2014)

P1030918“¿Que desea?” – „Was darf’s sein?”

„ El chupe e una porcion almuerzo con arroz, camote, pasta y pollo, por favor. – Eine Suppe und ein Mittagessen mit Reis, Süßkartoffeln, Nudeln und Huhn, bitte.“

Behend aber ohne Hast schwingt Maria ihre große, silberne Schöpfkelle in die verschiedenen dampfenden Messingtöpfe. Im handumdrehen sind Schüssel und Teller randvoll gefüllt.

„Buen provecho! – Guten Appetit!“

„Gracias Maria. – Danke Maria“.

Die kleine, zierliche indigene Frau mit der sanften Stimme und den wachen Augen ist sicherlich schon an die 70 Jahre alt. Ihr feines Gesicht ist von Wind und Wetter gegerbt. Die schlohweißen Haare sind akurat unter dem Melonenhut gebunden. Maria sprüht vor Vitalität. Die mobile Garküche an der Plaza ist ihr Reich. Wer weiß, wie viele Jahrzehnte sie hier schon Tag für Tag die Einwohner von Machacamarca mit ihrer bodenständigen Küche satt macht? Verschmitzt lächelt sie uns an und als Ria ihre Suppe lobt strahlt „Dona Maria“, wie sie von allen im Ort genannt wird – und die vielen Fältchen graben sich noch etwas tiefer in ihr schönes Gesicht.

Ein Foto gestattet sie uns aber nicht. Viele indigene Frauen im Hochland glauben, dass jedes Foto ein Stück ihrer Seele raubt. Und so akzeptieren wir Marias „Nein“.

Das einfache aber durchaus schmackhafte Essen nehmen wir zusammen mit Locals auf kleinen zusammengezimmerten Bänken direkt an der Straße zu uns. Die Atmosphäre ist locker. Ganz selbstverständlich bietet man uns Plätze an. Wir fühlen uns willkommen.

„Que mas? – Darf’s noch was sein?“ „Bueno Maria! – Danke Maria!“ Wir sind satt und gewärmt und und machen uns auf die Weiterfahrt.

Graubraun und unwirtlich erstreckt sich das Altiplano im Südwesten Boliviens.

Auf fast 4.000 m wächst nicht mehr viel. Nur noch das harte, spitze Büschelgras „ichu“ und „yareta“, eine winderstandsfähige Moosart, bedeckt die Hochebene. Dazwischen jede Menge kleiner und kleinster Kakteen auf deren Stacheln wir bei unserer täglichen Zeltplatzsuche abseits der Straße immer höllisch aufpassen, um nicht bei -10°C Löcher in den Reifen flicken zu müssen.

In der andinen Höhe werde vor allem papas – Kartoffeln (die hier ihren Ursprung haben) und Getreide angebaut. In den letzten Jahren wurden wieder verstärkt die alten, aus der Inkazeit stammenden genügsamen Nahrungspflanzen Amarant und Quinoa angebaut.

Auf kleinen Parzellen ringen die Bauern in mühsamer Arbeit dem harten, trockenen Boden das Notwendigste ab. Fast alles wird von Hand gemacht. Maschinen gibt es kaum. Auch das reife Korn wird händisch geerntet. Beim Worfeln wird in stundenlanger Arbeit die Spreu vom Weizen getrennt.

Ob die Ernte gut ausfällt, das Vieh sich vermehrt, alle gesund bleiben, hängt vom Segen Pachamamas, der Mutter Erde, ab. Dieser Glaube ist in der andinen Bevölkerung bis heute lebendig und hat sich mit dem Katholizismus (der gewaltsam von den spanischen Konquistadoren eingeführt wurde) zu einem ganz speziellen Mischglauben verbunden, in dem die alten Götter und Jesu-Mutter gleichermaßen verehrt werden.

Viele Einwohner des Altiplanos leben auch heute noch in einfachen kleinen Hütte, die aus Adobeziegeln gefertigt sind und in denen es oft weder Strom noch fließend Wasser gibt.

Die Schere zwischen Arm und Reich ist gewaltig. Zwei Drittel der Bevölkerung (UN-Angaben) – praktisch alle Indigenas – leben unterhalb der Armutsgrenze, ein Viertel sogar in extremer Armut und damit von weniger als 1 USD am Tag! Die fast ausschließlich weiße Oberschicht – das dritte Drittel – führt dagegen einen am Westen ausgerichteten Lebensstil. Für die Urbevölkerung ist das Leben auch nach 9 Jahren unter Evo Morales, erster indigener Präsident und Hoffnungsträger der verarmten Urbevölkerung, ausgesprochen hart. Die Lebensverhältnisse für die verarmten Indigenas verbessern sich nur langsam. Viele schuften in Bergwerken, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs, als Hilfsarbeiter oder fliegende Händler durch. Der Lohn reicht gerade mal zum Überleben. In den größeren Städten sehen wir viele Ältere um Almosen betteln.

Ab Challapata fahren wir gut 400 km auf der zunächst gut asphaltierten Nationalstraße N 1 über Oruro nach La Paz. Bis Oruro ist die Lebensader des Landes relativ wenig befahren. Meist haben wir einen markierten Seitenstreifen für uns. Hauptsächlich sind klapprige Linienbusse und oft überfüllte Kleinbusse, die sog. Micros, unterwegs. Private Pkw’s gibt es kaum und wenn, dann sind auch sie bis auf den letzten Platz gefüllt. Längst ist noch nicht jeder in dem armen Land motorisiert. Wer nicht mehr ins Auto passt, nimmt auf der Ladefläche der Pick Up’s und Lkw’s Platz und schützt sich mit Decken gegen den eisigen Fahrtwind. In einer Höhe von 3.500 – 4.000 m ist es zu dieser Jahreszeit bitter kalt. Stets fahren wir mit tauben Füßen und Händen los. Oft müssen wir eine feine Eisschicht von unserem Zelt abkratzen. Dazu kommt ein beständiger Wind aus Norden, der gegen Nachmittag stets zunimmt und unsere Kilometerleistung ordentlich drückt.

In Oruro (3.700 m) gönnen wir uns einen radfreien Tag und nach 1 Woche wieder mal eine heiße Dusche. Die Einfahrt gleicht einer Fahrt durch einen Wüstensturm. Von allen Seiten blässt uns der Wind Sand ins Gesicht und Getriebe. Im Zentrum herrscht dann endlich „Windstille“ und Verkehrschaos. Wir checken für 2 Nächte im Hotel „Residencia 21. Febrero“ ein. Mit der Dunkelheit erwacht der verschlafene 240.000 Einwohner-Ort zu Leben. Auf den schmalen, hohen Bordsteinen flanieren die Einwohner. Überall bauen fliegende Händler ihre Stände auf. Das Leben auf dem Mercado – dem zentralen Markt Oruros – flirrt dagegen tagsüber. Seit Asien haben wir keinen lebendigeren, reichhaltigeren, pulsierenden Markt erlebt. Es gibt praktisch nichts was es nicht gibt. Wir sind von der Angebotsvielfalt förmlich erschlagen. Schwer bepackt mit Obst, Gemüse, Nudeln, Nüssen, Haferflocken usw. kehren wir unser Hotel mit dem Charme der 60er Jahre zurück.

Der Abschnitt von Oruro bis La Paz ist dann nur noch ein einziges Ärgernis. Das erste Hindernis ist dabei noch recht unterhaltsam. 190 km südlich von La Paz zweigt in Caracollo von der Nationalstraße 1 die N 4 nach Cochabamba ab. Na und was ist daran so besonders? Besonders ist daran, dass Caracollo „strategisch“ äußerst wichtig ist. Immer wenn es im Land brodelt – und das tut es gerade wieder – ist der Ort der erste Punkt an dem Straßenblockaden errichtet werden. Und genau das geschieht als wir am 10.06.14 den Ortseingang erreichen. Nichts geht mehr. Kein Fahrzeug wird durchgelassen. Frustriert stehen die Fahrer an ihren Fahrzeugen. Reisende setzen zu Fuß mir Rolleys ihren Weg fort. Die Weggabelung ist mit Gesteinsbrocken und Ölfässern blockiert. Autoreifen brennen. Mit einem Streich ist der größte Teil des Landes blockiert. Doch so martialisch die Szenerie anmutet so locker sind die Blockierer drauf. Es wird diskutiert, Fußball gespielt, gelacht. Man grüßt uns freundlich.

Evo Morales selber hat diese Form des Protestes effektiv vor seiner Wahl genutzt. Nun muss er mit den Nachahmungen leben. Dorfbewohner, die ein neues Gesundheitszentrum oder einen Sportplatz für ihre Schule wollen, sperren eine Hauptstraße und isolieren ganze Landesteile, bis die Forderung erfüllt wird. Wir dagegen können die Blockade problemlos passieren. Und so haben wir den restlichen Tag freie Fahrt auf einer leeren N 1. Am nächsten Tag donnert der Verkehr wieder. Die Forderung (welcher Art auch immer) scheint erfüllt worden zu sein. Zu den nervenden, stinkenden Blechmonstern gesellt sich bei mir leider eine schwächende „Magen-Darm-Geschichte“. Die nächsten Tage können wir nicht mehr als 50 km am Tag fahren.

Das 2. Hindernis ist dann schon nicht mehr so amüsant wie die Blockade. Die N 1 ist hinter Oruro praktisch eine durchgehende Großbaustelle. In beiden Fahrtrichtungen soll sie in Zukunft zweispurig sein. Ein Prestigeprojekt des Präsidenten. Doch statt Stück für Stück die Fernstraße auszubauen wird an allen Stellen gleichzeitig „gewurschtelt“. Planlos und ziellos werkeln alle paar Kilometer ein paar rot gekleidete Männchen bruchstückhaft herum. Immer wieder ist die Straße für Kanäle aufgebrochen, wird der Schwerlastverkehr mitten durch schmale, kleine Ortsgassen geleitet, liegen umgestürzte Betonpolder auf der Fahrbahn, ist der Seitenstreifen durch Sandaufschüttungen für uns unbefahrbar. Hinzu kommen unzählige Umleitungen auf mit Gesteinsbrocken durchsetzten, staubigen Schlaglochpisten. Während wird alle Konzentration darauf verwenden, diese Buckelpisten materialschonend zu durchfahren, schneiden uns rücksichtslose Lkw- und Pkw-Fahrer. Unverantwortliche Überholmanöver werden riskiert als gäbe es uns gar nicht. Wie viele derartige Situationen unterschätzen und ihr Können überschätzen, davon zeugen hunderte Kreuze links und rechts der N 1. Doch scheinbar schrecken diese Mahnmale niemanden. Selbst bei dichtestem Nebel fahren viele ohne Licht und mit überhöhter Geschwindigkeit. So entspannt und zurückhaltend wir „die Bolivianer“ im Alltag erleben, so kopflos und hektisch verhalten sich viele auf der Straße. Als Ria in El Alto schließlich von einem Taxi abgedrängt wird platzt mir der Kragen. Ich brülle den Typen hinterm Steuer so lautstark zusammen, dass sich alle Augen auf uns richten. Konsterniert und wortlos starrt mich der Fahrer an. Die umstehenden Männer pflichten mir bei. Man deutet mir an ich solle den Vorfall der Polizei melden. Doch wir wollen El Alto – 30 Jahre erst alt, über 1 Million Einwohner und eine riesige Baustelle, so schnell wie möglich durchfahren und endlich in La Paz ankommen.

Und kurz darauf ist es endlich so weit. Vor uns breitet sich ein schier endloses Häusermeer in einer bizarren Landschaft aus. Von den Hängen des tief eingeschnitten Tales des Rio Choqueyapu ziehen sich unverputzte Backsteinhäuser mit Wellblechdächern in des Talkessel hinab. Mit jedem Meter weiter nach unten werden die Häuser ansehnlicher, im Zentrum ragen neben der mächtigen Basilika San Francisco Hochhäuser und Glaspaläste aus der Altstadt.

La Paz ist die am höchsten gelegene Regierungsstadt der Welt (4.100 m). Zwischen dem tiefsten und höchsten Punkt liegen 1.000 m und bis zu 10°C Temperaturdifferenz. Selbst im Sommer werden es in dieser Höhe kaum mehr als 20°C. Sobald die Dämmerung einsetzt wird es empfindlich kalt. Wo sich die Stadt noch nicht in das Tal gefressen hat ragen abstrakt anmutende, zerklüftete Säulen und Türme aus dem rötlich schimmernden Gestein, die der Regen aus dem Erdreich gewaschen hat. In der Ferne leuchten die 3 schneebedeckten Gipfel des mächtigen, 6.439 m hohen Illimani. In einer kurvenreichen Abfahrt brausen wir ins Tal des Rio Choqueyapu und durch die Vororte von La Paz … bis wir mitten in im größten Fest Boliviens – der Festividad de Nuestro Senor Jesus del Gran Poder – landen. Dieses Fest dachten wir eigentlich schon verpasst zu haben, da in unserem Reiseführer das letzte Mai- bzw. erste Juni-Wochende aufgeführt sind. Abrupt endet „El Prado“, die Hauptstraße und Lebensader der Stadt in der Festmeile und nach wenigen hundert Meter Schieben durch dichtes Gedränge ist unsere Einfahrt nach La Paz endgültig gestoppt.

Eben noch im staubig-grauen El Alto finden wir uns nun im ausgelassen-bunten La Paz wieder. 25.000 farbenfroh gekleidete Tänzer in prächtigen Kostümen ziehen durch die Straßen der Stadt. Begleitet werden sie von den „bandas“, Blechbläsergruppen mit jeder Menge cool gestylten, sonnenbebrillten Trommlern. Dem Publikum wird im mitreißenden Zweivierteltakt kräftig eingeheizt. Nicht jeder Ton sitzt, aber die Lautstärke stimmt. Jede Tanzgruppe präsentiert ihre eigene Choreographie. Manch einer hat sich in Ekstase getanzt. Dicht gedrängt stehen die Menschen in den engen Gassen. Ganz La Paz ist auf den Beinen und die Altstadt dicht. So werden die letzten Kilometer zu unserer Unterkunft noch einmal zu einem ganz besonderen „Vergnügen“. Über steile und steilste – von Menschenmassen bevölkerte Straßen – schieben wir unsere 50 kg-“Boliden“ auf und ab und mobilisieren die letzten Kräfte. Mit Einbruch der Dunkelheit erreichen wir schließlich den oberhalb der Altstadt gelegenen Stadtteil Sopocachi und irgendwann auch unsere private Unterkunft. Was in den ersten 5 Stunden in La Paz sonst noch geschah würde noch einmal für einen weiteren Artikel Stoff bieten … Völlig erschöpft genießen wir die heiße Dusche und fallen todmüde auf unsere Matratzen während sich vor unserem Fenster ein eindrucksvolles Lichtermeer ausbreitet und die La Pazer noch lange in die Nacht feiern.

Grandioses Meer aus Salz – Auf dem Salar de Uyuni

Oruro/ Bolivien bolivia
435. Reisetag
14.205 km / 85.188 hm

IMGP9793Eisig bläst uns der Wind ins Gesicht. Das Atmen fällt schwerer als gewohnt. Auch wegen der Höhe. Wir sind 3.700 m über dem Meeresspiegel. Um uns herum nur Weiß. Endlos breitet es sich bis zum Horizont aus. Dazwischen ein paar Inseln, die zu schweben scheinen. Gleißend grell blenden die winzigen Salzkristalle in der flirrenden Mittagssonne. Unsere Gesichter sind dick mit Sonnencreme (Faktor 50+) und Buffs gegen die intensive Sonneneinstrahlung geschützt.

So weit das Auge reicht haben sich auf der Oberfläche große Sechsecke gebildet. Mit einem Knirschen gibt die salzig-weiße Oberfläche ganz leicht unter dem Gewicht unserer Räder nach. Über uns spannt sich ein tiefblauer Himmel. Zarte Wolkenbänder in allen Spektralfarben schweben über uns. Immer wieder bleiben wir stehen und saugen die faszinierende Szenerie in uns auf. Eine fast unheimliche Stille liegt über allem.

Wir sind auf dem Salar de Uyuni, dem größten Salzsee der Welt. Umgeben von 12.000 km² Salz fahren wir vom östlichen Ufer 3 Tage lang durch eine fantastische Landschaft. 10 Milliarden Tonnen Salz liegen hier auf „dem Grunde“. Einst gehörte der Salar zum riesigen Anden-Binnenmeer Lago Minchins. Als dieses vor Jahrmillionen austrocknete blieb die salzige Schönheit zurück.

Ganz so weiß wie gewohnt erleben wir den Salar allerdings nicht. Vor 1 Woche tobte ein mächtiger Sandsturm auf dem Altiplano (dessen Ausläufer wir bei Humuaca zu spüren bekamen). Die feinen Sandkörner sind an den Rändern der Sechsecke hängen geblieben. Schaut man nach Südwesten ähnelt der Salar eher einer Wüste. Blickt man nach Nordosten erscheint er weiß.

Die Fahrt vom Ort Uyuni an den See war ein Vorgeschmack auf die bolivianischen Pisten. Über grobe Schotter- und tiefe Sandstrecken fahren wir 30 km durch die graubraune, bitterkalte und unwirtlich scheinende Hochlandeinöde im Südwesten Boliviens. Passieren uns allradgetriebene Pickup’s oder Lkw’s stehen wir in einer dicken Sandwolke. Mit jeder Ladung verlieren unsere Kleidung und Taschen mehr von ihrer ursprünglichen Farbe.

Wie eine Fata-Morgana taucht am 2. Tag unserer Salarfahrt am Horizont eine schwarze Erhebung aus dem weißen Meer auf. Die Insel „Isla Incahuasi“. Das Eiland besteht praktisch nur aus versteinerten Korallen. Dazwischen wachsen trockene Grasbüschel und unzählige Kakteen. Bis zu 10 m hoch ragen sie in den Abendhimmel, bewehrt mit zentimeterlangen spitzen Stacheln. Könnten sie sprechen hätten sie sicherlich viel zu erzählen. Diese Kakteenart wächst jedes Jahr nur einen Zentimeter. Manche von Ihnen sind über 1.200 Jahre alt.

Am Eingang zur Insel stehen mehrere dutzend Jeeps. Touristen aus aller Welt klettern für 35 Bolivianos (~ 4 €) auf den Felsen herum und posieren für’s Fotoalbum vor den stacheligen Riesen. Wir füllen lediglich unsere Wasservorräte auf und genießen den Anblick vom See aus.

Auf der Südseite der Insel suchen wir Schutz vor dem eiskalten Wind, der mit Untergang der Sonne stürmische Formen annimmt. Doch auch hier finden wir keinen Schutz. Es windet von allen Seiten. Wir haben Mühe unser Zelt aufzustellen. Mit Einbruch der Dunkelheit kommt nicht nur der Wind. Sobald die letzten wärmenden Strahlen hinter den Anden verschwunden sind, sinkt auch die Quecksilbersäule rasant. Beißend dringt die eisige Kälte bis in die Knochen. Jetzt ist der Schlafsack der einzige Ort an dem einem noch warm wird. Mit – 17°C (-10°C im Zelt) erleben wir auf dem Altiplano die bisher kälteste Nacht unserer Reise.

Gleichzeitig breitet sich ein Sternenhimmel über unserem kleinen Zelt aus, wie wir ihn zuvor noch nie gesehen haben. Kein Umgebungslicht schluckt die funkelnden Sterne. In einem riesigen Bogen spannt sich die Milchstraße über das nächtliche Altiplano.

Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um 6:00 Uhr. Es kostet einige Überwindung sich bei den Minusgraden aus den warmen Schlafsäcken zu schälen. Unsere Hände und Füße spüren wir nach wenigen Minuten nicht mehr bzw. nur noch einen beißenden Schmerz. Doch der Gang in die Kälte wird belohnt: Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, da erleben wir ein Farbenspiel, das mit Worten nur unzureichend zu beschreiben ist. Die salzige Einöde, Inseln und Bergketten sind in schönste Pastellfarben getaucht. Alles scheint wie von „Meisterhand“ gemalt – vollkommen, wunderschön, einzigartig. Atemlos, berührt, schauen wir dem Farbenspiel zu.

Später am Tag, mit den wärmenden Strahlen der Sonne, kommt auch wieder Leben in unsere Glieder. Vor allem die Füße brauchen lange bis wir sie wieder spüren können.

Den 5.400 m hohen Vulkan Tunupa in Blick fahren wir gen Norden. Immer wieder passieren wir kleinere Wasserlöcher. Es sind die sogenannten „Ojos – Augen des Salars“, blubbernde Salzquellen, die sich in der 3 – 5 m dicken Salzkruste auftun. Hier brechen unterirdische Wasserläufe und Gase durch die Salzdecke.

Den Abend verbringen wir wieder auf dem „Festland“. Im winzigen Ort Coqueza bekommen wir zwar kein Zimmer mehr im einzigen Hotel. Dafür lässt uns der Besitzer auf seinem Grundstück kostenlos zelten. Noch einmal genießen wir das abendliche Schauspiel. In der Ferne heben sich rötlich schimmernd die Bergketten vom Salzsee ab. Direkt vor uns an den Ufern des Salars stelzen rosafarbene Andenflamingos auf der Suche nach Plankton durch das Wasser. In der untergehenden Sonne leuchtet der Himmel noch einmal in dunklem Orange auf, bevor eine weitere eiskalte Nacht über dem Altiplano hereinbricht.

Durch die Quebrada de Humahuaca nach La Quiaca

La Quiaca/Argentinien argentina
423. Reisetag
13.725 km / 83.864 hm

IMGP9381

 

Die letzten 400 km in den abgeschiedensten Provinzen Salta und Jujuy sind zwar die härtesten in ganz Argentinien aber auch landschaftlich und kulturell die schönsten während unserer 8 Wochen im Land. Die Andenkette und ihre Vorgebirge im Blick fahren wir durch bunte, fruchtbare Täler mit herbstlich gefärbtem Blattwerk; genießen das Radlerglück auf vielen einsamen Abschnitten der Ruta 9; stehen atemlos vor bizarren Felsformationen, die in allen erdenklichen Erdtönen leuchten; besuchen alte, bunte getupfte Inka- und Kolonialstädtchen, in denen die Indio-Traditionen noch spürbar sind und „hören“ in sternklaren Nächten die absolute Stille, während unser Zelt zwischen 10 m hohen Kandelaber-Kakteen steht.

Zwischen Salta und San Salvador de Jujuy geht es zunächst – völlig unerwartet – durch dichten subtropischen Regenwald. Wir fühlen uns fast nach Südostasien zurückgebeamt. Fast 2 Tage lang begleitet uns ein Korridor aus üppiger Vegetation. Die Ruta 9 ist hier kaum befahren (es gibt einen neueren Abschnitt weiter östlich), so dass wir die malerische, kurvenreiche Strecke entlang der grünen Berghänge fast für uns allein haben. In der Nacht zelten wir wild an der Grenze der beiden Provinzen und lauschen den Klängen des Regenwaldes. Über 300 Vogelarten leben hier. Am Morgen leistet uns ein Kolibri Gesellschaft. Im Baum neben unserem Zelt sucht er nach Blütennektar, während wir unser Honigbrötchen mit heißem Tee genießen.

In San Salvador de Jujuy, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, holen uns dann der Verkehr und das schlechte Wetter wieder ein. Als wir am Morgen des 21.05.14 aufbrechen herrscht zunächst Nebel, der mit jeder Stunde dichter wird und schließlich in heftigen Regen übergeht. Zusätzlich fegt uns aus Norden eine steife Briese die „Gischt“ ins Gesicht. Wir fahren in voller Regenmontur stetig bergauf und sind bei den schlechten Sichtverhältnissen wieder mehr mit dem Verkehr als mit der Landschaft beschäftigt. Die ist hinter der weißen Wand aber eh kaum wahrzunehmen. Ein argentinisches Radlerpaar kommt uns entgegen. Beide sind pitschenass und ziemlich verfroren. Keine guten Aussichten für die nächsten Tage, denken wir.

In der Nacht haben wir zum ersten Mal seit langem wieder leichte Minusgrade und der Regen geht in Schnee über. Am Morgen ist eine feine weiße Schicht auf unserem Zelt. Doch das ist erst der Anfang. In den darauffolgenden Nächten sinkt die Temperatur bis auf – 14°C (im Innenzelt -7°C). Beim Einpacken am Morgen sind unsere Finger und Füße schon nach wenigen Minuten nicht mehr spürbar und erst nachdem die Sonne eine ganze Weile auf uns niederscheint, tauen unsere Extremitäten langsam wieder auf …

Die Quebrada de Humahuaca, das Tal, in dem wir seit S.S. d. Jujuy unterwegs sind, zieht sich 130 km Richtung Norden. Dabei steigt sie langsam an und ist für uns der ideale Einstieg auf das Altiplano. Von San Salvador de Jujuy auf 1.552 m geht es bis auf 3.780 m hoch. Das langgezogene schluchtartige Tal ist einer der wenigen Einschnitte in die Puna, die Hochwüste Nordargentiniens. Über Jahrtausende diente es den Urvölkern der Region als eine Art Korridor zwischen dem Altiplano im Norden und den tiefer gelegenen Gebieten im Süden.

Als wir am nächsten Tag Purmamarca erreichen scheint zwar noch nicht die Sonne, aber immerhin regnet es nicht mehr. Der Ort auf 2.190 m ist eine alte Inkasiedlung. Überragt wird der Ort vom Cerro del los Siete Colores, dem „Berg der 7 Farben“. Rund um die zentrale Plaza verkaufen Kunsthandwerkshändler indianische Waren und wunderschöne Stoffe, Kleidung und allerlei Mitbringsel in traditionellen Mustern. Wir erstehen einen kleinen Wandteppich und für Ria eine Handtasche. Das vielfarbige Angebot an den Ständen und in den Läden steht in kräftigem Kontrast zum staubigen Ort. Zu Recht heißt das nette Städtchen Purmamarca übersetzt auch „Wüstenort“.

Kurz vor Humahuaca (2.939 m), Endort der Quebrada, erleben wir dann einen wahren „Wüstensturm“. Uns weht es fast von der Straße. Eine riesige Sandwolke verdunkelt den Himmel über uns. Es knirscht zwischen unseren Zähnen, die Augen brennen. Wir „flüchten“ uns in die Stadt und legen unsere Siesta im sehenswerten Ortskern ein. Auch hier wird in den engen, mit Kopfsteinpflastern versehen Gassen, Kunsthandwerk verkauft. Hinter den Mauern der alten Dorfkirche suchen wir Schutz vor dem heftigen Wind, der eiskalt über die Plaza fegt und uns fast den Käse vom Weißbrot weht.

Die frostige Nacht verbringen wir zwischen hochaufragenden Kandelaber-Kakteen, die hier zu abertausenden wachsen und wie Arme ihre Äste in die Lüfte strecken. Kurz nach Mitternacht ist es mit der Stille vorbei. Ein heftiger Sturm zieht auf und klingt erst Stunden später ab. Am Morgen haben wir in unserem Innenzelt und auf den Schlafsäcken eine feine Sandschicht. Die Reisverschlüsse des Zeltes haken. Welch’ Freude. Bei -10°C „entstauben“ wir unser Equipment und „vereisen“ … bis der Anstieg wieder unser Blut in den Adern pulsieren lässt.

Hinter Humahuarca ändert sich das Landschaftsbild rasant. Waren wir eben noch von Kakteenwäldern, Strauchwerk und Feldern umgeben so wird das Flusstal nun von vielfarbigen Hügeln dominiert. Ein faszinierendes Farbenspiel bietet sich uns und alle vorangegangen Regentage und Eisnächte sind mit einem Mal vergessen. Die Felsformationen leuchten rot und schwarz, grün, türkis, violett … je nach Sonneneinstrahlung und mineralischer Zusammensetzung des Gesteins. Der Fluss hat sich teilweise tief ins Tal geschnitten und einen breiten, henna-roten Canyon geschaffen, in dem zu dieser Jahreszeit aber nur ein kleines Rinnsal fließt.

Aber nicht nur die Landschaft ändert sich. Auch das Wetter dreht sich nun zu unseren Gunsten. Zwar sind die Nächte schweinekalt, tagsüber scheint aber die Sonne und macht das Radfahren in der Höhe zu einem unvergesslichen Erlebnis … für das wir aber auch ordentlich strampeln müssen. Die Ruta 9 steigt schnell an. Teilweise in Serpentinen führt uns die Straße auf die Puna, den argentinischen Ausläufer des bolivianischen Altiplano. Am Ende des Tages haben wir 1.000 Höhenmeter absolviert und stehen am Pass auf 3.780 m Höhe – denken wir. Das Passbild, was wir „schießen“, kommt zu früh. Erst nach weiteren 2 km erreichen wir den Pass. Von da ab rollt es sich wieder merklich schneller.

In Abra Pampa, einem verstaubten und verschlafenen Altiplano-Ort aus Lehmziegelhäusern, essen wir am nächsten Tag zu Ria’s Geburtstag 2 Portionen Saltenas. Gut gestärkt fahren wir bei schönstem Sonnenschein anschließend über die weitläufige gelb-braun gefärbte Puna, die im Westen und Osten von 2 bis zu 5.000 m hohen Gebirgsketten begrenzt wird – der Sierra Cavalonga und der Sierra Santa Victoria.

Hier oben ist die Luft merklich dünner. Schnelleres Pedalieren oder eine kleine „Wanderung“ in die Steppe zur Zeltplatzsuche werden sofort mit Kurzatmigkeit „belohnt“. Am 27.05.14 erreichen wir La Quiaca, den letzten Ort in Argentinien. Die Grenzstadt zu Bolivien auf 3.442 m ist noch einmal ein nettes, lebhaftes Örtchen, in dem wir einen vollen Tag verbringen, um uns zu sortieren und unser in Mitleidenschaft gezogenes Equipment zu reparieren. Morgen geht es dann über den Grenzfluss nach Villazon in Bolivien und damit in unser 17. Reiseland.

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Unterwegs im Nordwesten Argentiniens

Salta / Argentinien argentina
414. Reisetag
13.320 km,  79.706 hm

IMGP8222 Über 2.000 km sind wir nun schon in Argentinien gefahren und haben doch nur einen Bruchteil des Landes gesehen. Das Land ist das achtgrößte der Erde. Die Nord- Südausdehnungen beträgt 3.700 km, etwa so viel als würde man von Kopenhagen bis nach Ägypten fahren.

Entlang der Anden, die sich wie ein Rückgrat durch das gesamte Land ziehen fahren wir von Mendoza im Nordwesten immer gen Norden. Zunächst auf der legendären Ruta 40 später auf anderen Nationalstraßen geht es durch 8 Provinzen. Wettertechnisch ist in dieser Zeit alles dabei: Sonne, Wind und Regen. Da es keine Gebirgszüge gibt, die in Ost-West-Richtung verlaufen, haben wir besonders in der ersten Woche mit starkem Wind zu kämpfen der ungebremst über die Ebenen fegt und beständig gegen Nachmittag zunimmt. In den Provinzen Tucumán und Salta wird’s dann nass-kalt. Doch dazu später mehr.

Besonders in Tucumán, Catmarca und La Rioja ist die Armut sicht- und spürbar. Die Provinzen gehören zu den ärmsten des Landes. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Saisonarbeit häufig. Die Provinzen leben vor allem von der Agrarwirtschaft. Zuckerrohr, Wein, Oliven, Nüsse, Obst- und Gemüse werden angebaut. Die Infrastruktur ist marode, viele Autos echte Oldimer.

Es herrscht eine merkwürdige Lethargie im Land, die sich nur schwer in Worte fassen lässt.

Argentinien wurden von seinen Präsidenten in den letzten 20 Jahren verhökert (Wasserwerke, Telefon-, Flug- und Ölgesellschaften). Die erhofften Arbeitsplätze entstanden nicht. Heute hat Argentinien offiziell 10 % Arbeitslosigkeit. Dann kam die Währungskrise 2001, die das Land rasant verarmen ließ. Der Peso verlor innerhalb weniger Monate 70 % seiner Kaufkraft. Seitdem scheint das Land nur schwer wieder auf die Beine zu kommen. Heute ist Argentinien eines der am hoch verschuldetsten Länder der Welt. 20 % leben unterhalb der Armutsgrenze. Und jetzt erneut Inflation (30 %/Jahr!), sprunghafte Preise bei den Grundnahrungsmitteln. Wer kann flüchtet in den Dollar. Wir bekommen ihn in keiner Bank.

Vor allem in den Siedlungen am Rande der Provinzhauptstädte wird die Armut offensichtlich. Lehmhütten, die aussehen als würde sie der nächste Regen wegspülen, Behausungen aus Wellblech und Planen. Kinder die keine Schuhe tragen. Menschen, die auf Parkbänken leben. Im Regen wirkt die Szenerie noch trister und trostloser.

Viele Menschen versuchen sich mit kleinen „Jobs“ über Wasser zu halten, als Autowäscher, Schuhputzer, mit selbstgemachten Empanadas, Cremes, Souvenirs, als Fahnen- oder Zuckerwatteverkäufer.

Auch nach 8 Wochen im Land sind wir immer noch dabei Argentinien zu verstehen, bleibt uns vieles ein Rätsel. Irgendwo zwischen Melancholie und Leidenschaft trifft es wohl ganz gut. Fahren wir durch die immer gleich verschlafenen, staubigen Orte mit den gleichen Plätzen und Straßennamen erscheinen uns die Argentinier eher reserviert. Sicher, es wird gegrüßt, geschaut. Aber alles eher verhalten, keinesfalls „südamerikanisch“. Irgendwie liegt etwas Schwermütiges in der Luft, scheint die Zeit still zu stehen. Gleichzeitig wird diese Schwermut regelmäßig durchbrochen. Wer einen fahrbaren Untersatz hat lässt es „krachen“. Die bemitleidenswerten Motoren der meist betagten Fahrzeuge werden auf höchste Drehzahlen getrieben. In den Gassen bellen Hunde sich heiser und die knarzende Musikanlage mit Latinorythmen beglückt die ganze Straße. Über all dem Lärm blättert an vielen Fassaden der Glanz aus besseren Zeiten ab. Das Land steckt – wieder mal – in einer Finanz- und Wirtschaftskrise. Das ermüdet die Menschen. Kommt man aber mal ins Gespräch hellen sich die Mienen auf. Und dann kann der Argentinier durchaus lebendig werden und wie ein Wasserfall erzählen. Neugierig werden unsere Gefährte begutachtet. Der Daumen geht nach oben. Erzählen wir dann noch, was wir so treiben, werden wir mit Lob, Schulterklopfen und dem Ausruf „Que Lindo!“ überhäuft. Gefragt oder auch ungefragt postiert man sich um uns herum, bis jeder auf dem Bild mit den Deutschen einmal drauf ist. Herzlich ist die Verabschiedung und man wünscht uns “Suerte” und “Buen viaje” und wir schließen die Argentinier immer fester in unsere Herzen.

Kulinarisch bleiben dagegen so einige „Verdauungsschwierigkeiten“. Jeden Tag Weißbrot, das macht bei uns „viel heiße Luft um/mit nichts“ … und viele Argentinier dick. Neben trockenen Baguettes sind Fleisch und Coca vielfach die „Grundnahrungsmittel“. Für die meisten Argentinier ist es undenkbar täglich nicht Fleisch zu essen. Überall und zu jeder Tageszeit wird Asado zubereitet. Und hier ist der „Mann“ noch „Mann“. Grillen ist Männersache. Claro Macho! Und ohne seinen Mate-Tee kommt der Argentinier auch nur schwer über den Tag. Er wird überall getrunken: im Bus, auf der Tankstelle, beim Zuschauen auf dem Sportplatz, in der Warteschlange oder einfach vor dem Haus. Mate ist der Alltags- und Zaubertrank. Und auch wir lieben es, abends im Zelt den heißen würzig-bitteren Sud durch unsere Bombilla (silbernes Saugröhrchen) zu ziehen und dabei den Tag Revue passieren zu lassen.

Kulinarisch ist die Reise durch Argentinien kein Offenbarungseid. Südostasien hat uns verwöhnt. Doch ein paar Dinge haben unsere Gaumen dennoch lieb gewonnen: Dulce de Leche und Media Luna am Morgen, Empanadas oder eine gut gegrillte, deftig gewürzte Chorizo zwischendurch und Alfajores oder Galettas am Abend. Und das – erste! – Steak heute Mittag war sensationell!

Ein echtes Ärgernis ist für uns die Siesta, die in Argentinien stets strickt und überpünktlich eingehalten wird. Zwischen 13:00 und 16:00, manchmal 17:00 Uhr sind die Läden zu. Das ohnehin schon ruhige Leben wird noch ruhiger oder erlahmt ganz. So wird die Fahrt in den nächsten Ort und zum nächsten Supermarkt oft ein Kampf gegen die Uhr. Mit präziser Teamarbeit – 20 min. Ria vorne, 20 min. ich – schaffen wir es meist noch vor der Siesta … doch eben nicht immer.

Ein viel größeres Ärgernis sind aber die automovilista. Die argentinischen Fahrer bekommen von uns die „Rote Laterne“ was Rücksichtnahme und Fairniss angeht. Allzu viele vertrauen mehr auf die zahlreichen Schutzheiligen statt auf den eigenen Verstand. Die Busfahrer sind dabei am aggressivsten. Immer wieder werden wir haarscharf und mit hoher Geschwindigkeit überholt. Manchmal können wir uns nur mit einem Satz in den Randstreifen in Sicherheit bringen. Aber auch mancher Brummi drängt uns ab. Angepasstes Fahrverhalten bei Nebel und Regen erleben wir so gut wie nie. Viele Pkw-Fahrer überschätzen ihr Können. Unzählige Kreuze und Sterne an den Straßen zeugen davon. Rund 10.000 Argentinier sterben jährlich im Verkehr. Da sind uns die rostigen Oldtimer geradezu sympathisch. Auch wenn manche Karosse so löchrig wie ein Schweizer Käse ist – rasen können die altersschwachen Mühlen nicht mehr.

So kommt zwischen Tucuman und Salta nur selten Fahrspaß auf. Die Route National 9 ist ein Nadelöhr für den gesamten Schwerelastverkehr gen Norden. Der Asphalt ist oft altersschwach und löchrig, die 9 zeitweise nicht breiter als eine Landstraße in Deutschland. Dazu kommt auch noch eine Schlechtwetter-Front. Die vom Flachland aufsteigenden Wolken regnen sich an den Gebirgsschwellen ab. 7 Tage fahren wir in dichtem Nebel und Regen und sehen … fast nichts.

Einen Tag müssen wir komplett im Zelt verbringen. Das Wetter ist zu schlecht, die Sicht praktisch null. Nach einer Woche Wildcampen und Katzenwäsche steigt der olfaktorische Wert gegen 9 von 10 möglichen Punkten. Und so leisten wir uns in Salta endlich wieder eine Unterkunft, genießen die heiße Dusche und den Duft frischer Wäsche. Die Stadt trägt zu Recht den Beinamen „La Linda“ – Die Schöne. Bei strahlendem Sonnenschein streifen wir durch die Altstadt mit vielen prächtigen Kolonialbauten und lassen uns treiben und die Seele baumeln.

Bisheriger Höhepunkt unserer Reise im Nordwesten waren ohne Zweifel die beiden Nationalparks

Ischigualasto und Talampaya, die im Jahr 2000 von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt wurden. Was hier auf einer ca. 1.300 m hohen Hochebene in wüstenhafter Landschaft von der Erosion an skulpturartigen, kuriosen Gesteinsformationen in Jahrmillionen geschaffen wurde ist atemberaubend schön. In den Formationen wurden u.a auch einige der ältesten bekannten Dinosaurierfunde gemacht. Bis zu 230 Millionen Jahre alt sind die Fossilien. Doch faszinierender als jeder Urzeitriese ist für uns die Erhabenheit dieser Orte, das Farben- und Formenspiel der Natur.

Chilenisches Seenland und Santiago de Chile

Santiago/ Chilechile
377. Reisetag
11.770 km, 73.675 hm

Blick vom Parkhügel Santa LuciaEltern setzen stolz ihre herausgeputzten Kinder für ein Erinnerungsfoto auf Plüschpferde, Rentnerinnen verkaufen Rosen und Palmenzweige, daneben lassen Geschäftsleute im edlen Zwirn noch schnell ihre Schuhe auf Hochglanz bringen, Verkäufer preisen lautstark Süßigkeiten an, staunende Kinder stehen vor bunten Trauben gasgefüllter Luftballons, Schachspieler sitzen – umringt von fachmännisch die Züge analysierenden Zuschauern – mit ernster Miene vor ihren Figuren. Trommler, Sänger, Tänzer, „Straßen-Comedians“ und andere Kleinkünstler unterhalten ihr Publikum. Die späte Nachmittagssonne taucht das Straßenbild in ein warmes Licht.

Wir sitzen auf einer Bank in der Paseo Huérfanos, einer Fußgängerzone im Zentrum von Santiago de Chile und lassen das Treiben auf uns wirken. Die Hauptstadt des Landes gefällt uns. In den engen Straßen ist das Leben bunt, zuweilen hektisch, in jedem Fall aber geschäftig. Trotzdem ist die Atmosphäre entspannt, man nimmt sich Zeit für einen Plausch. Den Plaza de Armas, das Herz der Stadt, können wir leider nicht sehen. Ein großer Bauzaun umgibt den Platz. Santiago putzt sich an vielen Stellen heraus. Das Wirtschaftszentrum des Landes boomt. Rund um den Regierungspalast „La Moneda“ ist das Banken- und Geschäftsviertel. Banker in feinem Zwirn und Handy am Ohr eilen über die Plaza de la Ciudadania, den Bürgerplatz. Die Stadt scheint wie ein Magnet zu wirken. Jährlich wächst Santiago um 100.000 Einwohner. Mittlerweile leben fast 40 % der Chilenen hier. Dennoch ist die City überschaubar. Kein Vergleich mit den quirligen Metropolen Südostasiens. Alle Straßen verlaufen rechtwinklig zueinander. Vom Nullpunkt im Zentrum beginnen in alle Himmelsrichtungen die Hausnummern mit 100. Zwischen 2 Querstraßen liegen meist 100 Hausnummern (auch wenn es meistens nie 100 Häuser sind) die ungefähr auch einer Entfernung von 100 m entsprechen. So können wir uns auf dem Stadtplan immer ganz gut ausrechnen, wie weit es bis zur nächsten Sehenswürdigkeit ist.

Doch abseits des Geschäftszentrums und der Flaniermeilen sehen wir auch ein anderes Gesicht der Stadt. In den Straßen nördlich der Plaza de Armas ist der Glanz vorbei. Hier leben die sozial Schwächeren. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auch in Chile weiter auseinander. Nur eine kleine Klasse profitiert vom Wirtschaftswachstum. In den Parks und Grünanlagen liegen Obdachlose. Mittellose verkaufen ihr Hab und Gut. Hier ist auch das „Reich“ der kleinen Straßenhändler. „A mil, a mil!“, „Für tausend, für tausend“ tönt es durch Straßen. Vom Schokoriegel, bis zum Geschirrtuch wird alles mögliche verkauft.

Im Mercado Central, einer riesigen Markthalle, die 1872 eigentlich für Ausstellungen chilenischer Künstler errichtet worden war, wird schon größeres „Business“ gemacht. Hier türmen sich frisches Obst und Gemüse, werden Fische filetiert, Meeresfrüchte gewaschen, Käse und Fleisch über die Theken gereicht. Das Leben und Treiben auf den Märkten hat für uns immer eine ganz besondere Anziehungskraft und wir lieben es durch die Gassen zu streifen und Neues zu entdecken. Der Markt in Santiago ist einer der größten, die wir bisher gesehen haben. Und außerdem sind die Produkte wesentlich günstiger und von besserer Qualität als in den Supermärkten. Am Ende unseres Besuchs schleppen wir mehrere Kilo Obst und Gemüse durch die Stadt. Die nächsten Tage gibt es Fruchtsalat satt und große Gemüsepfannen. Ein anderes „Vergnügen“ gönnen wir uns dann auch noch: 1 x Chilenische Fast-Food-“Kultur“. Für 800 Pesos (gut 1 €) bestellen wir einen Completto. Ein bizarrer Hot-Dog aus einem kleinen Wiener Würstchen im süßen Luftbrötchen überschüttet und zugeschmiert mit Mayonnaise, Ketchup, Senf und Avocadocreme. Optisch bunt, kulinarisch und ernährungstechnisch aber ne Nullnummer. Hoffentlich sind unsere Geschmacksknospen nicht eingegangen …

Am letzten Abend sehen wir Santiago noch einmal aus der „Vogelperspektive“. Vom höchsten Punkt des hügelartigen Parks Cerro Santa Lucia genießen wir den wunderbaren Blick auf das Häusermeer und die Bergkette. Der Verkehrslärm in den Straßen der 5 Millionen-Metropole, die Sirenen der Ambulanz und Polizei, hier oben scheint alles fern. Der Gesang der Vögel übertönt die Geräusche der Stadt. Die Anden sind nur einen Steinwurf entfernt. Wie ein feiner Zuckerguss bedeckt der Schnee die 6.000er Gipfel. Davor das Häusermeer aus unzähligen Wohn- und Bürotürmen – das ist schon ein ganz besonderer Anblick.

Gerne hätten wir noch mehr in Santiago entdeckt. Doch es bleibt nur wenig Zeit, bevor es über die Berge erneut nach Argentinien geht. In den nächsten 3 Monaten wollen wir bis Lima fahren. Ein paar tausend Kilometer und viele Höhenmeter auf teilweise schlechter Piste warten auf uns. Schon die letzten 3 Wochen waren kein Zuckerschlecken. Gerade auf dem Abschnitt Esquel (Argentinien) – Chaiten (Chile) ächzten Mensch und Material unter üblen Schotterpisten. Anstiege jenseits der 14 % und Gegenwind ließen nur noch Schritttempo zu oder zwangen uns gar ganz vom Rad. Dennoch waren die Tage in Patagonien unvergesslich und landschaftlich wunderschön. So rau und ungezähmt wie die Landschaft ist eben auch das Wetter dort. 3 Tage saßen wir in der Hafenstadt Puerto Montt fest als eine Schlechtwetterfront über die Region zog. Unaufhörlich prasselte der sintflutartige Regen auf die Blechdächer der bunt gestrichenen Holzhäuser. Doch danach riss der Himmel für einige Tage auf und bei strahlendem Sonnenschein konnten wir die nächsten Tage das Radfahren im Chilenischen Seenland genießen. Wann immer es ging verließen wir auf der Fahrt gen Norden den breiten Seitenstreifen der berühmten Panamericana, die im Süden Chiles komplett als Autobahn ausgebaut ist. Auf meist schönen Asphaltstraßen umfuhren wir glitzernde Badeseen am Fuße eisgekrönter Vulkane, die aus dichten Wäldern aufragen. Dazwischen feuchtkühle, sattgrüne Blumenwiesen auf denen Rinder und Schafe weiden. Immer wieder boten sich uns prächtige Ausblicke auf die faszinierende Gebirgslandschaft. Die Umrundung des gewaltigen Llanquihue-Sees mit Blick auf den Vulkan Osorno war der absolute Höhepunkt dieses Abschnitts. Am Fuße des schneebedeckten Kegels bauten wir unser Zelt mit Blick auf den glasklaren dunklen See auf und genossen das einmalige Panorama.

Seitdem wir in Santiago sind haben wir wieder herrliches Spätsommerwetter. Hoffentlich bleibt das auch so auf der östlichen Seite der Anden, wenn wir in Argentinien weiter gen Norden radeln.

Auf der Homepage ist dieser Eintrag vorläufig erst einmal der letzte. Wir nehmen uns für unbestimmte Zeit eine Auszeit – nicht vom Reisen, aber vom Schreiben. So bleibt uns vorerst nur allen zu danken, die uns im letzten Jahr begleitet haben. Danke fürs Lesen und Mitreisen, für die Unterstützung des Kinderprojektes in Rumänien, für das Interesse. Wir wünschen allen einen wunderbaren Frühlingsanfang, wo immer Ihr gerade in der Welt seid.

Galerie Santiago de Chile

Galerie chilenisches Seenland und Esquel (Argentinien)

 

1 Jahr auf Reise – ein Blick zurück

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Für uns ist mit Berlin – Kuala Lumpur ein Abschnitt der Reise zu Ende gegangen. Das haben wir erst im Laufe der letzten Wochen deutlicher gemerkt. Ist dieses Jahr nun schnell oder langsam vergangen? Schwer zu sagen. Oft kommt es uns noch gar nicht so lange vor, dass wir auf der „langen Meile“ sind. Andererseits erscheinen Ereignisse von vor einem halben Jahr manchmal sehr weit zurückzuliegen. Durch die Intensität der Erlebnisse hat sich ein ganz spezielles Zeitgefühl eingestellt. Auf dem Flug von Kuala Lumpur nach Buenos Aires hatten wir in jedem Fall genug Zeit, um ein wenig „Inventur“ zu betreiben. Nun sind die Gedanken strukturiert und die Zahlen addiert. Zeit also noch stichwortartig ein kleine Bilanz zu ziehen.

Radtage
hatten wir bisher 163. Manchmal ist das „Leben auf dem Sattel“ sprichwörtlich hart, meist aber wunderschön. Langeweile oder Monotonie kommen so gut wie nie auf. Wir erleben das Radfahren als eine emotionale Berg- und Talbahn: Freude und Enttäuschung, Leichtigkeit und Anspannung, Launen, Zuversicht, Erschöpfung, Euphorie und stilles Glück – alles ist dabei und in ständigem Wechsel. Es gibt Tage, da genießen wir die Leichtigkeit des (Rad-Da-)Seins – fliegen mit den Vögeln, haben einen echten „Flow“, den perfekten Rhythmus. Die Beine treten wie von selbst. Die Räder und wir sind eine Einheit. Wohlig schnurren sie wie ein Kätzchen. Genauso gibt es aber auch Tage, da kämpfen wir mit permanentem Gegenwind, miesem Wetter und ebensolcher Laune, gegen die Zeit, den inneren Schweinehund, schlechte Straßen, zu steile Steigungen, Hungergefühl, wunde Hinterteile … Doch stets werden solche „Durststrecken“ und „Leidenszeiten“ mit euphorischen Momenten, eindrücklichen Begegnungen und Naturerlebnissen belohnt.

Ruhetage
waren nicht immer welche. Besonders in den ersten Monaten haben wir uns diese Tage mit einem Mix aus Sightseeing, Organisation und Kommunikation zu voll gepackt. Kaum standen die Räder still begann es sich im Kopf zu drehen: Was ist an den Rädern zu machen?, Haben wir genug Geld und Lebensmittel?, Welche Infos brauchen wir für den nächsten Reiseabschnitt?, Wie sind die Öffnungszeiten von Banken und Grenzübergängen?, Wann suchen wir Bilder aus und schreiben den nächsten Artikel? Bleibt noch Zeit für’s Tagebuch? Solche Tage endeten dann unbefriedigend, weil für Ruhe und Reflektion, für uns, kaum Zeit blieb. Mittlerweile haben wir eine bessere Balance gefunden.

Was wir vermissen
nicht viel. Nach 5 Tagen kalter Katzenwäsche vermissen wir vor allem einen warmen „Wasseranschluss“ am Zelt und gelegentlich unsere „Lümmel-Couch“. Ria würde gerne wieder frisches Schwarzbrot, Quark und eine Thüringer Rostbratwurst mit Sauerkraut essen. Oliver hätte gerne Naturjoghurt zum Müsli und selbstgemachte Pizza. Außerdem fehlt ihm die Tasse Filterkaffee und dazu die neueste „Zeit“-Ausgabe. Das Fernsehen vermissen wir beide nicht. Auf dem Rad gibt es täglich genug Sehenswertes.

Was wir uns wünschen
Gesund zu bleiben. Noch mehr Zutrauen, uns auf Menschen einzulassen. Die Landessprache besser zu sprechen, um uns intensiver austauschen zu können.

Was uns ärgert oder nervt
Steigungen jenseits von 12 %; Pkw-Fahrer ohne „Distanzgefühl“; Lkw-Fahrer, die direkt neben uns ihre ohrenbetäubende Fanfare betätigen; Hunde die ihren Jagdtrieb an uns auslassen; Menschen die gedankenlos Abfall in der Natur hinterlassen; Handwäsche; tagelanger Gegenwind, eingezäuntes Weideland (auf dem wir gerne zelten würden).

Was uns fasziniert
Die Menschen und die vielfältigen Lebensformen. Die Gastfreundschaft in allen Ländern. Das bunte Treiben auf den Märkten. Die Schönheit unseres Planeten. Die Stille. Jeden Tag unvermittelt auf Unbekanntes, auf Neues zu stoßen. Das Licht bei Sonnenaufgang erleben zu dürfen. Das riesige Sternenmeer über unserem kleinen Zelt.

Wie funktioniert die Technik
Die meisten Anschaffungen haben sich gelohnt und bewährt. Dennoch war nicht alles „Gold was glänzt“ und manches Teil nicht für den dauerhaften Gebrauch gemacht. Sollten wir noch einmal auf lange Reise gehen werden wir uns sicherlich weniger Gedanken um jeden einzelne Ausrüstungsgegenstand machen. Die Robustheit unserer Räder erstaunt uns dagegen immer wieder. 5 Platten auf 12.000 km ist praktisch Nichts. Keinen einzigen Speichenbruch haben wir bis heute! Auch die Bremsbeläge mussten wir nur 1 x wechseln. Jeweils 1 neue Kette, 1 Kettenblatt und 1 Ritzel sprechen auch für Qualität. Die Reparatur des Steuerlagers geht auf eine Falschmontage zurück. So wartungsarm könnte es bleiben…

Ein paar „Schnittchen”
Wenn wir fahren dann meist richtig. Im Schnitt radeln wir 75 km am Tag in 4 ¾ Stunden (reine Fahrzeit) und mit 16,40 km/h stets unterhalb des erlaubten Tempolimits. Dabei geht es im Schnitt 470 Meter m bergauf (und irgendwann auch wieder runter).

Höher, weiter, aber nicht schneller
Bis zum 31.03.2014 sind wir – rein rechnerisch :-) – 8 x auf den Gipfel des Mount Everest gefahren (71.687 hm) und haben dafür 11.460 km zurückgelegt.

 

Die Welt ist freundlich

Gesichter

Als wir in Berlin verkündeten, dass wir für 2 Jahre mit dem Rad um die Welt fahren wollen, gab es Zuspruch und Ermutigung aber auch Unverständnis und Bedenken. Viele Fragen bezogen sich auf Verständigungsprobleme, gesundheitliche Risiken, mögliche Krankheiten, unsere Sicherheit und die Gefahren in fremden Ländern.

Seit 1 Jahr sind wir nun unterwegs. Fast 12.000 km haben wir im Sattel verbracht. Erst in Europa und Asien und nun auf dem amerikanischen Kontinent. In diesen 365 Tagen haben wir uns nicht nur körperlich von „A nach B“ bewegt. Auch in uns hat sich vieles in Bewegung gesetzt. Wir sind durchlässiger, nachdenklicher, offener geworden. Zeit, ein paar persönliche Worte zu unseren Erfahrungen zu schreiben, zur Welt, wie wir sie sehen und erleben dürfen.

In allen bisher bereisten Ländern wurden wir respektvoll behandelt, erfuhren wir Vertrauen und Gastfreundschaft, wenn wir sie annehmen konnten und Hilfe, wenn wir sie benötigten. In Ungarn arrangierten Tünde und Jozsef für mich einen Termin beim Orthopäden des örtlichen Krankenhauses. Völlig unentgeltlich wurde ich dann untersucht. In der Türkei, als wir partout keinen Platz für unser Zelt finden konnten und völlig erschöpft im Dunkeln an einer Papierfabrik klingelten, ließ man uns ohne Zögern auf dem Grundstück des Unternehmens zelten. Von den Nachtwächtern bekamen wir Obst und Getränke gebracht. Im Iran beschenkten uns Eslam und seine Familie mit großer Herzlichkeit und Wärme, nahmen uns auf, als wären wir schon immer ein Teil der Familie. Jafar lieh uns sein Smartphone 3 Tage lang aus ohne uns auch nur 2 Minuten zu kennen. In Turkmenistan besorgte uns Marat Tickets für die dringend benötigte Zugfahrt, an die wir ohne ihn niemals gekommen wären. Auch um 3:00 Uhr nachts half er uns noch am Bahnhof. In Thailand lud uns Bae von der Straße weg zu sich nach Hause ein. Gemeinsam mit der Familie kochten und aßen wir. Anschließend überließen sie uns Ihr Haus, wünschten uns eine Gute Nacht und fuhren davon. In Kambodscha räumten die Mönchsnovizen des Wat „Svay Teab“ ihren Schlafraum für uns und kauften uns auf dem Markt Essen.

Das sind nur einige, wenige Erlebnisse. Nicht zu vergessen die vielen kleinen, fast alltäglichen Hilfen und Geschenke. Wenn wir nach dem Weg fragen, nehmen sich die Menschen Zeit. Man übersetzt für uns, transportiert uns kostenlos im Auto, schenkt uns Essen und Getränke, Benzin, Glücksbringer, ein freundliches „Salaam!“, „Strastje!“, „Sabaidee!“, ein Lächeln, eine Geste.

Überall sind uns Menschen mit Neugier und Offenheit begegnet, haben uns zu sich nach Hause, zum Essen, zum Gespräch, zum Austausch von Gedanken und Erfahrungen eingeladen. Und dabei haben sie uns ein Stück ihrer Welt, ihrer Realität, ihres Reichtums gezeigt. Auch wenn wir nicht alles, was wir hören und sehen, verstehen oder mit unseren Werten und Überzeugungen teilen können, so konnten wir doch oft Freundschaft mit fremden Gedanken schließen. Dabei sind wir uns selbst, unserem Eigenen näher gekommen, weil wir durch die persönlichen Begegnungen begonnen haben, über das Fremde anders zu denken.

Natürlich gab es auch mal negative Erfahrungen, eine unangenehme Begegnung. Doch gibt es die nicht auch zu Hause? Viel betroffener als manch’ unfreundlicher Zeitgenosse oder überzogener Preis haben uns die Armut, die Ungleichverteilung der Lebenschancen und die Art und Weise gemacht, mit der wir – die Menschheit – die Erde behandeln.

Fast alle Naturschönheiten, die wir bestaunten, sind in Gefahr. Nur noch auf den ersten Blick sieht vieles intakt und unberührt aus. Was davon wird in 20, 30 Jahren noch erhalten geblieben sein? Was unwiederbringlich verloren?

Der Homo sapiens war und ist intelligent genug, eigene Kulturen und den Planeten zu zerstören. Also muss es doch auch Wege geben, die Erde zu erhalten? Den einen Masterplan, die Lösung wird es nicht geben. Aber klar ist, wenn die Welt von morgen noch halbwegs so lebenswert sein soll wie die von heute, wird nicht alles so bleiben können, wie es ist. Ein Umdenken im Großen wie im Kleinen und ein Verzicht auf eigene Vorteile muss eintreten.

Am Ende mündet unser Dreck in dasselbe Meer, verbrennen wir gemeinsam die verbliebenen Energieressourcen, atmen wir dieselbe Luft. Alles was passiert ist global.

Wenn viele Leute, an vielen kleinen Orten, viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern.
(Afrikanisches Sprichwort)

Ein Stück vom Himmel (Herbert Grönemeyer)

Auf der windumtosten Ruta 40

Esquel / Argentinien argentina
354. Reisetag
11.210 km, 69.662 hm

P1010858Unter mehreren Schichten Klamotten geschützt aber klammen Fingern und eiskalten Füßen erreichen wir auf gut 1.000 m den bisher höchsten Punkt unseres ersten Streckenabschnitts auf dem südamerikanischen Kontinent. Zwischen den dichten Wolkenformationen blitzt nur ganz selten die Sonne auf. Die Lufttemperatur beträgt 8 °C, gefühlt haben wir aber schon Frost. Was für ein Unterschied zu den letzten Tagen in Malaysia als das Thermometer noch 40°C und mehr anzeigte!

Wir sind in Nordpatagonien unterwegs, auf einer der längsten Fernstraßen der Welt – der Ruta Nacional 40 und fahren mitten hinein in den südamerikanischen Herbst. 5.224 km ist die Piste lang und verbindet den gesamten Westen Argentiniens von Süden nach Norden.

Laut GPS folgt nach dem letzten Anstieg des Tages eine 10 km lange Abfahrt – theoretisch wenigstens. Aber natürlich gibt es wieder Gegenwind. Alles andere hätte uns auch verwundert. Und so treten wir kräftig in unsere Pedalen, um mal wieder mit 20 km/h durch die Landschaft zu rollen. Jeder Kilometer hier will erarbeitet werden. Der charakteristische immerwährende Wind Patagoniens macht das Vorwärtskommen nicht gerade leicht. Viele Bäume sind stumme Zeugen seiner unglaublichen Kraft. Dazwischen weite, endlose grau-gelbe Steppenlandschaft mit niedrigem Buschwerk dazu viel Wind und immer wieder mal Regen.

Ganz anders noch das Wetter 3 Tage zuvor in San Carlos de Bariloche. Die Stadt am Fuße der Anden empfängt uns mit Sonne. Da in den Überlandbussen kein Stauraum für unsere Räder war, mussten wir noch einmal tiefer in die Tasche greifen und uns erneut in den Flieger setzen, um hierher zu gelangen.

Der Tourismus tobt sich im Städtchen Sommer’s wie Winter’s so richtig aus. Seit einigen Jahren haben Touristen die immense Schönheit der Umgebung rund um den See Nahuel Huapi für sich entdeckt und so klettern die Übernachtungspreise für argentinische Verhältnisse in astronomische Höhen. Für 43 € pro Nacht bekommen wir ein schlichtes, kleines Zimmer (inkl. Frühstück) in einer freundlichen Hosteria. Wer mehr will muss weitaus tiefer in die Tasche greifen – und es ist Nebensaison …. Trotz der gepfefferten Übernachtungskosten bleiben wir einen Tag länger als geplant, um uns ein Stück des reizvolles Fleckchens anzusehen. Wir wandern auf den Gipfel des Cerro Campanario (1.022 m). Laut National Geographic “One of the best 10 viewpoint on earth.” Ob das stimmt? Egal. In jedem Fall ist die Aussicht von oben beeindruckend und wir haben dazu noch fantastisches Wetter. Bei klarer Sicht und 25 °C in der Sonne genießen wir die Bilderbuchlandschaft und das 360°-Bergpanorama. Auf der Wasseroberfläche des Nahuel Huapi spiegeln sich die schneebedeckten Andengipfel der Umgebung. Die Arme des dunkelblauen Sees erstrecken sich wie Fjorde in das grüne Bergland.

Die Fahrt aus Bariloche heraus am nächsten Tag ist dagegen kein Vergnügen und ein echter Kraftakt. Es hat sich merklich abgekühlt. „Mörder“-Rampen von bis zu 18 % in der Stadt zwingen uns dazu unsere Räder auf den ersten 2 Radkilometern in Südamerika zu schieben. Kaum haben wir die Stadt hinter uns gelassen empfängt uns der frische Südwestwind und wird zu unserem stetigen Begleiter in den nächsten Tagen. Wir folgen dem asphaltierten und gut ausgebauten Streckenabschnitt der Ruta 40 nach Süden. Entlang mehrerer Seen schlängelt sich die Straße zunächst durch satte grüne Landschaft mit dichtem Nadelwald. Immer wieder bieten sich uns schöne Blicke auf das Piltriquitron-Massiv und die schneebedeckte Bergkette der Anden. Der stetige Wind zaubert beeindruckende Wolkenformationen an den patagonischen Himmel. Greifvögel nutzen die Thermik und spielen scheinbar mühelos mit den Kräften.

Über mehrere langgezogene Anstiege mit kurzen Abfahrten gelangen wir schließlich auf eine 60 km lange, 700 – 900 m hohe, Hochebene. Die ersten Anstiege nach 3 Wochen Radpause sind mit vollem Gepäck und einigen Kilogramm Lebensmitteln ein harter Brocken. Im kleinsten Gang arbeiten wir uns bei Gegenwind und in Regenkleidung Stück für Stück hinauf. Entlang der Ruta 40 wächst jetzt fast nur noch gelb-grünes, trockenes, steppenartiges Buschwerk. Obwohl der graue, steinige Boden nicht viel hergibt und keine Menschenseele zu sehen ist, scheint das Land bewirtschaftet zu werden. Kilometerlang ist die Fläche links und rechts der Fernstraße mit Stacheldraht eingezäunt. So müssen wir direkt an der Straße und einmal unter einer Brücke zelten. Zum Glück ist der Verkehr in dieser abgelegenen Region Argentiniens in der Nacht recht gering, so dass wir gut schlafen können. Außerdem gibt es direkten „Wasseranschluss“ dank eines kleinen Flusses. Bei 10°C und Wind kostet das eiskalte Bad zwar einige Überwindung, aber frischgeduscht ist’s halt doch schöner in den Schlafsäcken. Wieder auf der Piste strecken uns viele entgegenkommende Fahrer den Daumen hoch oder grüßen uns mit der Lichthupe. Das tut gut.

Immer wieder kommen wir auf der Ruta 40 an Schreinen zu Ehren der Difunta Correa vorbei. Sie Correa ist eine berühmte Schutzheilige in Argentinien. Der Legende nach bekam die Difunta Corea ihren “Heiligenstatus”, weil sie auf der Suche nach ihrem verschleppten Mann in der Wüste verdurstete während ihr Säugling wie durch ein Wunder dank der Muttermilch überlebte. Vor allem LKW-Fahrer verehren sie, da sie die Schutzheilige der Reisenden darstellt.

Nach anstrengenden, eindrucksvollen 5 Tagen erreichen wir Esquel. Das 30.000 Einwohner-Städtchen im gleichnamigen Tal liegt am Fuße des Berges La Hoya. Gleich am Ortseingang finden wir eine bezahlbare und sehr schöne Cabana aus Naturmaterialien mit eigener Küche und separatem Schlafzimmer. Hier erholen wir uns noch 1 Tag bevor es über den ersten Pass auf die chilenische Seite der Anden geht.

Buenos dias aus Buenos Aires!

Buenos Aires / Argentinien argentina
344. Reisetag
10.910 km, 66.910 hm

IMGP7063Gut 1 Woche nach unserer Ankunft in Buenos Aires hat sich der Jetlag so langsam gelegt und wir sind nicht nur körperlich sondern auch mental in der Stadt am Rio de la Plata angekommen. Der Zeitsprung in die Neue Welt war anstrengender als erhofft, das Prozedere vor dem Flug leider auch wieder …

Und so sind wir froh, dass wir bei Cristina, unserer herzlichen, nimmermüden Gastgeberin, länger als geplant bleiben können. Cristina ist weit über 70 Jahre alt aber ein wahrer Jungbrunnen. Voller Tatendrang geht sie jeden Morgen ins Institut für Mikrobiologie und lehrt als Professorin an der Universität von Buenos Aires. Gleich am Ankunftstag versorgt Cristina uns mit frischer Milanesa, einer schnitzelartigen panierten Scheibe Rindfleisch, dazu gibt es Tomate und Zwiebeln. Marcello und Lila, ihre beiden Hunde lecken uns zur Begrüßung ab und auch wir haben die beiden schnell in unser Herz geschlossen.

Buenos Aires ist eine Stadt mit vielen Gesichtern – eine Mischung aus Paris, Rom und Barcelona. Hübsch und hässlich, bunt und grau, mit hektischem Großstadtgetöse und kleinen Oasen, einem riesigen kulturellen Angebot aber auch etwas melancholisch. Vor prächtigen Fassaden durchwühlen Arbeitslose den Müll, an den Eingängen von Banken schlafen Obdachlose und manchmal ganze Familien. Schöne, alte Gebäude aus der Gründerzeit, von denen die Pracht langsam abblättert und die Bandoneonspieler auf den Straßen erzählen von besseren, von vergangenen Zeiten….

Der ungeliebte Peso befindet sich derzeit im freien Fall und die grassierende Inflation (bis zu 30 % jährlich!) machen den harten Alltag vieler Menschen nicht leichter. Auch Cristina und ihre Familie müssen sehen, wie sie „über die Runden kommen“. Kostet das Kilo Bananen heute noch 1,50 €, sind es am nächsten Tag schon 2 €. Es ist nicht die erste Krise, die die Argentinier zu bestehen haben …

Die kulturellen Wurzeln in Europa sind überall sichtbar. Viele Hauptstädter stammen von eingewanderten Spaniern und vor allem Italienern ab. Kein Wunder, dass es an jeder Ecke mindestens eine Pizzeria gibt und überall „Heladerias“, (teures) italienisches Eis, verkauft wird. Bei 4 € für 250 ml fragen wir uns wie sich das die Menschen noch leisten können… In den ärmeren Stadtteilen und in den Villas Miserias (Elendsvierteln) der Stadt leben viele Bolivianer und Peruaner, die in Argentiniens Metropole ihr Glück versuchen. Viele von ihnen verdingen sich als sog. Cartoneros – Kartonsammler. Jeden Tag ziehen sie mit gesenktem Blick hinter hochaufgetürmten Karren durch die Straßen, um sich mit dem Einsammeln von Altpapier ein paar Pesos zu verdienen. Für 1 Kilo Abfall gibt es 5 Centavos – das sind ein halber Cent!! Von dieser Arbeit leben mehr als 100.000 Menschen in der Stadt! Um tagtäglich zu überleben, gilt es, schneller als die Müllabfuhr zu sein …

Trotz dieser bedrückenden Armut, der alltäglichen Sorgen und unsicheren Zukunft ist die lateinamerikanische Lebensfreude für uns spürbar. Bunte Wandmalereien überdecken bröckelnde graue Fassaden und mit großem Ideenreichtum kreieren junge, kreative Menschen aus Weggeworfenem Schmuck und andere Alltagsgegenstände. Auf offener Straße und in der U-Bahn wird musiziert und getanzt. Aus den Cafés und Bars der Stadt erklingt Tangomusik – Lebenselixier der Portenos.

In La Boca soll er entstanden sein. Das teilweise aufgehübschte arme Hafenviertel gefällt uns mit seinen originellen, farbigen Häusern aus Blech und schockiert uns mit seiner Armut und Kriminalität. Abseits der touristischen Hot Spots werden wir mehrmals von Anwohnern gewarnt auf unsere Kameras besonders Acht zu geben. Den Zutritt zur Calle Nechoea verbietet uns schließlich die Polizei …. so etwas hatten wir auf unserer bisherigen Reise noch nicht erlebt. Im Museo de Bellas Artes de La Boca lassen wir die Bilder von Benito Quinquela Martin (1890 – 1977) auf uns wirken. In kraftvollen Farben erzählen sie vom Leben der Menschen im Viertel, das heute wie vor 100 Jahren hart und trist ist. Über dem Stadtteil trohnt das Stadion des legendären Fußballclubs Boca Juniors. „La Bombonera“, die Pralinenschachtel, wie die Fans liebevoll ihre Spielstätte nennen, ist jedes 2. Wochenende Bühne kleiner und großer Dramen, Ort von Glück und Verzweiflung, von Hoffen und Bangen zugleich. Und wer verkörpert dieses Auf und Ab besser als Maradona. Der berühmteste Spieler Boca Juniors ziert noch immer überlebensgroß zahlreiche Wände in den Straßen Bocas und erzählt vom großen Traum, es von ganz Unten nach ganz Oben zu schaffen …

Ganz anders dagegen San Telmo, das „Kreuzberg“ von Buenos Aires. Das Viertel ist bei Künstlern und Intellektuellen beliebt. In den Gassen und Straßen herrscht ein junges, buntes Flair. Kunst- und Klamottenläden wechseln sich mit Bars und Galerien ab. Wir genießen den Streifzug durch San Telmo und lauschen der Tangomusik vor den Cafés. Rund um den Plaza Dorrego findet ein riesiger Antiquitätenmarkt statt, der sich durch den ganzen Stadtteil zieht. Nach 2 Stunden im Gedränge des Feria de San Pedro Telmo sind unsere Füße platt und wir stärken uns mit unseren ersten Empanadas, einem spanischen „Erbe“. Die halbmondförmigen Teigtaschen gibt es mit Huhn, Rindfleisch, Thunfisch, Käse und Spinat gefüllt.

Dank der guten Kontakte von Ines, Cristinas Tochter, können wir Karten für den Klassiker „Racing Club – Boca Juniors“ ergattern und kommen sogar umsonst ins Stadion. Es geht um viel. Beide Clubs spielen gegen den Abstieg. Für Racing seit Jahren Die Atmosphäre im „El Cilindro“ ist elektrisierend. Schon 1 Stunde vor Spielbeginn beginnen die Fangesänge. Sambatrommeln heizen an diesem nasskalten Abend dem Publikum zusätzlich ein. Auf dem Feld brennt Racing in der 1. Halbzeit dagegen kein Feuerwerk ab. Boca geht verdient 1:0 in Führung. Beim Pausenpfiff schimpfen und toben die Fans …. und peitschen die Mannschaft in der 2. Hälfte nach vorne. Dank eines Foulelfmeters gelingt Racing der Ausgleich. Auf den Rängen bricht ein Sturm los. Tausendfach erschallt der Ruf „Vamos Racing!“. Doch 10 Minuten vor Ende gelingt Boca der 2:1 Siegtreffer … Dennoch ein schöner, ein unvergesslicher Abend in einer lebendigen, liebenswerten Stadt.